PDF zum Produkt betrachtenVideo zum Produkt betrachtenKapitel 8: Mit Genfood gegen den Hunger in der Welt (S. 146-153: aus ?Die Kunst, vernetzt zu denken: Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. Ein Bericht an den Club of Rome“, Taschenbuch, 384 S., Mai 2002, 6. Auflage 2007)
Eines der umstrittensten aktuellen Themen ist die bereits im Gange befindliche Genmanipulation im Nahrungsanbau. Auch hier gilt, dass man bei noch so grundlicher wissenschaftlicher Abwägung der Einzeleinflüsse und -wirkungen, wie sie durch gentechnische Veranderungen entstehen, den Gesamtzusammenhang meiner Meinung nach auch nicht annähernd zu erfassen imstande ist: also indirekte Wirkungen, Wirkungsketten, Wirkungsnetze und Rückwirkungen. Und dies nicht nur in den ursächlich betroffenen Bereichen, etwa einer genetisch veränderten Nahrungspflanze und ihres Biotops, sondern auch in deren Interdependenz mit den übrigen Lebensbereichen einschließlich der menschlichen Gesundheit.
Eine derartige Systemuntersuchung ist trotz der Tragweite dieser erstmals von Menschen unternommenen und deshalb äußerst heiklen Eingriffe in das natürliche Gefüge unserer Ökosysteme nie gemacht worden. Ohne die größeren, über den Fachbereich hinausgehenden Zusammenhänge zu kennen - sowohl im Negativen wie im Positiven-, sind angesichts der Komplexität der betroffenen Systeme genetische Eingriffe in das natürliches Gefüge letztlich nicht zulässig. Denn ein verändertes Erbgut löst - sobald einmal in die Natur entlassen - über Reproduktionsprozesse oder andere sich multiplizierende Vorgänge über die erste Generation hinaus eine selbstständige Weitergabe und Perpetuierung aus und kann dadurch nicht mehr in den Griff zu bekommende Kettenreaktionen oder Aufschaukelungsvorgänge nach sich ziehen. Eine Freisetzung gentechnisch manipulierter Pflanzen, die nie mehr rückgängig zu machen ist, mag daher in Anbetracht der unüberschaubaren Langzeitrisiken Probleme schaffen, die vielleicht erst kommende Generationen auszubaden haben. Die Parallelen zur "Freisetzung" der niemals mehr rückverwandelbaren radioaktiven Abfälle durch die Segnungen der Atomindustrie sind offensichtlich.
Umso erstaunlicher ist die nur in einer verblüffenden Uninformiertheit zu begründende Leichtsinnigkeit, mit der neuartige Genmuster unbekümmert in bestehende Biotope eingebracht werden. Nach Angaben der Deutschen Industrievereinigung Biotechnologie sind weltweit bereits 90 gentechnisch veränderte Pflanzensorten zugelassen. Darunlter fand sich jedoch keine Sorte, die etwa bessere Erträge als ihre natürliliche Ausgangsform liefert. Das dahinter stehende Ziel dieser Manipufalationen ist eindeutig die erhöhte (vor allem Herbizid-) Resistenz der Pflanzen, was diese durch den nun möglichen gesteigerten Einsatz von Pflanzenschutzmitteln für die Agrarindustrie interessant macht. So werden neue Genmuster in die Umwelt gesetzt, zu denen aber weder die Mikroarganismen des Bodens noch die begleitenden Pflanzen, Algen, Flechten und Pilze, noch die Würmer, Käfer und Spinnentiere und was nicht alles zum unmittelbaren Umfeld einer jeden Pflanze zählt, eine Beziehung und damit voraussehbare Reaktionen aufgebaut haben: unerwartete Resistenzen gegen neue Krankheitserreger, Verschiebungen im Schädlingsspektrum und neue Anfälligkeiten, die weitere Genmanipulation nach sich ziehen werden.
Ein einheitliches Genmuster bedeutet neben der zweifellos höheren Produktivität (und gleichzeitig höheren Anfälligkeit, wie bei allen Monokulturen) auch immer eine Ausschaltung des biologischen Zufallsgenerators, dessen Rolle - etwa in der Steuerung der Evolution - noch gar nicht durchschaut ist. Das Scheitern der Grünen Revolution in manchen Entwicklungsländern (die zum Beispiel Kenia in kurzer Zeit vom Getreideexportland zum Importland gemacht hat) sollte ein warnendes Beispiel sein. Darüber hinaus bedeutet aber jede genetische Einengung auch eine Verringerung der für das Überleben so wichtigen Streubreite einer Art. Und das gilt natürlich auch für die menschliche Spezies, wenn man deren Genreservoir auf momentan vielleicht wünschenswerte Eigenschaften einengt, wovon weiter oben schon die Rede war.
"Text zu Abb 37: Selbst ein einfacher Kohlkopf ist mit vielen anderen Spezies zu einem unsichtbaren Netz, einem Systemkomplex verwoben. Für den Blätterkohl Brossico oleracea wurden alleine 38 verschiedene Spezies ermittelt: Insekten, Sporen, Pilze, symbiontische Samen und Flechten, Blattkäfer, Schwebfliegen, Falter und Spinnentiere, die durch eine Reihe verschachtelter Rückkopplungen aufeinander und auf die Entwicklung des Kohlkopfes einwirken und neben Unkräutern, Bodenlebewesen und Mikroorganismen in diesem System mitspielen. Auch die "schädliche" Raupe eines Kohlweißglings hat wichtige Funktionen fur das Ganze, sie dient der Schlupfwespe als Speise, auf die wieder andere Glieder des Netzes angewiesen sind. Vielleicht schadet so mancher "Schadling" und so manches "Unkraut" der Landwirtschaff mehr dadurch, dass sie zur Besprühung mit Insektiziden und Herbiziden herausfordern, was dann eine solche Biozönose mitsamt ihrer Schutzfunktion zusammenbrechen lässt. Ab dann kann die von ihrem Umfeld isolierte Nutzpflanze nur noch mit "harten Bandagen" geschutzt werden. Wenn dann in Zukunft noch gentechnisch veranderte Insekten auf die restlichen funktionierenden Biozonosen losgelassen werden und sie in Chaos verwandeln, dürfte der Aufwand fur eine solche destabilisierte Landwirtschaft nicht mehr bezahlbar sein."
Gesundheitliche Rückwirkungen
Aber nicht nur die Komplexität der Wechselwirkungen zwischen Pflanze, Boden, Kleinlebewesen und Mikroorganismen, auch die Reaktionen des menschlichen Organismus auf den veränderten Stoffwechsel und die neuartigen Inhaltsstoffe der genmanipulierten Pflanzen ist noch nicht im Mindesten durchschaut. Ganz abgesehen von dem schon erwähnten stärkeren Herbizideinsatz, gegen den zwar die genetisch veränderte Kulturpflanze, aber gewiss nicht unser Organismus resistenter geworden ist, muss man sich fragen, ob sich mit der Einschleusung isolierter artfremder Gene - abgesehen von den erwünschten Effekten - beim Konsumenten nicht auch neuartige Allergien, also immunologische Reaktionen des Organismus einstellen. In zunehmenden Fällen sind daher Stoffwechselstörungen, Veränderungen der Darmflora und Unverträglichkeiten in der Verdauung zu erwarten, von tiefer gehenden Langzeitschäden ganz zu schweigen. Die Übertragung der Antibiotika-Resistenz des Gen-Mais auf Tier und Mensch zum Beispiel wurde inzwischen vom Pariser Pasteur-lnstitut eindeutig nachgewiesen. Nicht ohne Grund bereitet also Genfood allgemeines Unbehagen.
Vielleicht mag vieles davon gar nicht eintreten. Das Risiko jedoch ist mit Sicherheit vorhanden. Ich selbst habe vor vielen Jahren zusammen mit dem Zoologen Fritz ANDERS mit genspezifischen Kreuzungen von Pflanzen (Nicotiana) wie auch von bestimmten Fischarten (Xiphophorus, Platipoecilus etc.) gearbeitet, biochemische Untersuchungen angestellt und über Induktor- und Repressormechanismen der auf die Gene wirkenden Proteine geforscht. Schon damals trat klar zutage, dass mit der Ubertragung eines Gens nicht nur ein bestimmtes Erbmerkmal übertragen wird, das wir zufällig gerade erkennen. sondern dass sich damit das Gesamtmuster des genetischen Textes verändert, sozusagen die Beziehung aller Gene zu allen, und eine Reihe von latenten, zum Teil rezessiven Kombinationswirkungen (unter anderem Tumoren) auftreten, die überhaupt nichts mit dem erwünschten Effekt zu tun zu haben brauchen. Die Untersuchung solcher Kopplungen war damals nicht einmal unser Ziel. Ich erwähne dies nur, um auf die Komplexität eines genetischen Eingriffs hinzuweisen, erst recht, wenn dieser nicht durch "normale" Kreuzungen zustande kommt.
Biotech ist nicht gleich Biotech
Bedauerlich bei der ganzen Diskussion wäre hier allerdings, wenn das Kind mit dem Bade ausgeschüttet würde. Leider wird derzeit alles, was mit Krenzungen, Neuzüchtungen, Biotechnik usw. zu tun hat, mit Genmanipulationen in einen Topf geworfen (nicht zuletzt von den Protagonisten der Gentechnik selber, um mit solchen Vergleichen deren Harmlosigkeit herauszustellen). Gerade die industrielle Mikrobiologie aber und die gewaltigen Hilfen, die wir von Seiten der Biotechnologie im Hinblick auf ökologische Produktionsprozesse nutzen können (was bisher viel zu wenig angegangen wird), bekommt so den gleichen Stempel aufgedrückt. Weder Bier noch Joghurt, weder Käse noch Hefekuchen könnten wir ohne Biotechnologie genießen. Und so zukunftsträchtige Verfahren der industriellen Mikrobiologie wie die (Gewinnung von Biogas, die energielose Aufbereitung von Erzen (wie zum Beispiel schon weitgehend bei der bakterieillen Kupfergewinnung der Fall) und andere umweltfreundliche Biotechniken würden gar nicht erst aufkommen können. Um hier nichts zu verbauen, scheint mir eine strikte Trennung solcher mit der Umwelt kompatibler Biotechnologien mit ihren äußerst profitablen Mögilichkeiten von jenen inkompatiblen, den universellen genetischen Code irreversibel verändernden Biotechnologien dringend notwendig.
Was Letztere betrifft, so wundert mich der fast schon fanatische Durchsetzungswillen dieser nicht einmal im Ansatz verstandenen Manipulatitionen. Warum das alles? Schließlich haben wir auf der Welt an die 400000 Pflanzenarten, von denen nur ein Bruchteil überhaupt je auf ihre mögliche Rolle für die Ernährung wie auch als "grüne Apotheke" untersucht sind und von denen vielleicht ganze zehn Arten 99 Prozent der pflanzlichen Welternährung bestreiten! Hier liegt noch ein ungeheures natürliches Potenzial brach, welches im Einklang mit den umgebenden Ökosystemen und Biotopen genutzt werden könnte.
Wissenschaft braucht den öffentlichen Konsens
Es ist zu hoffen, dass sich allmählich die Erkenntnis durchsetzt, dass nicht jede Erfindung oder Entwicklung weiterverfolgt beziehungsweise angewandt werden darf, wenn sich schädliche oder auch nur unbekannte Folgen der Anwendung wie etwa bei der Gen-Manipulation von Saatgut oder bei den bisherigen Pannen der Gentherapie abzeichnen. So löst man vielleicht ein Problem, schafft aber damit schon gleich wieder eine Reihe neuer.
Nicht nur Ubertreibungen und Fälschungen, auch Behinderungen gehen die Öffentlichkeit etwas an. Das ist der Januskopf in der Wissenschaftsförderung, dass zwar einerseits haltlose Versprechen gestützt und Fälschungen gedeckt, aber andererseits nur allzu oft Forschungen, die vielleicht dem momentan herrschenden Dogma widersprechen (wie im Fall unserer krebshemmenden Proteine), durch die gleichen Institutionen und ihre Gutachter behindert werden. "Die Wissenschaft muss sich legitimieren, sie hat keine Lizenz zur Weltverbesserung", schrieb der Bundestagsabgeordnete Michael MÜLLER einmal in der "ZEIT". Für wissenschaftliche Weichenstellungen werden daher in Zukunft übergeordnete Entscheidungen nötig sein, die öffentlich diskutiert werden müssen und weder dem Zufall überlassen noch von den wissenschaftlichen Gremien alleine getroffen werden können. Denn kein Spezialfach kann aus sich selbst heraus beurteilen, welche Bedeutung es für die Wissenschaft oder die Gesellschaft wirklich hat. Mit anderen Worten: Normale Bürger und damit auch die Politik werden in Zukunft ein immer gewichtigeres Wörtchen mitreden müssen. Als Konsumenten tun sie es bereits. Denn das Unbehagen an genmanipulierter Nahrung und der Ekel, den viele mit Genfood verbinden, ist berechtigt oder nicht - jedenfalls real und hat bereits bei Firmen wie MONSANTO den Trend zu einem - zwar noch zögerlichen - Rückzug aus diesem heiklen Geschäft veranlasst.
Ich sehe es daher als eine gesellschaftliche Aufgabe der Forscher an, das durch den Genom-Rummel gestörte Verhältnis zur Öffentlichkeit zu beenden und den Leuten nahe zu bringen, was in den Labors eigentlich passiert, statt sich auf ihren Fachjargon zurückzuziehen, um ihre Ergebnisse mehr scheinen zu lassen als sie es in Wahrheit sind.
Als ernüchterndes Fazit bleibt, dass mit der Entschlüsselung des genetischen Codes seit der Entdeckung der Doppelhelix als Träger des Erbguts durch CHARGAPP, CRICK und WATSON an Erkenntnissen über die komplexen Ablesevorgänge vom Genom und das dadurch ausgelöste Geschehen im Organismus nicht viel Neues hinzugekommen ist. Neu bei dem Ganzen ist vor allem das Marketing, nämlich dass man einerseits mit aufgebauschten (aber durch nichts gestützten) Heilungsaussichten für die leidende Menschheit, andererseits mit Sciencefiction - gepaart mit einigen Horror- und Frankensteinvisionen - auf einmal Milliarden Zuschüsse vom Staat und anderen Geldgebern locker machte. Eine geschickte PR-Mischung, die die Aufmerksamkeit explodieren ließ, doch mit allen drei Aussichten, der Beseitigung des Hungers in der Welt, der Gentherapie und dem Klonen des zukünftigen Supermenschen ist es nicht weit her. Dazu passt eine bekannte Aussage von Manfred EIGEN (Chemie-Nobelpreis 1967): "Die Zustände in der Welt werden sich nicht durch Genveränderungen verbessern, sondern nur durch mehr Hirn."
Komplexität erkennen
Nach all dem Gesagten erhebt sich die Frage: Wie kann sich unser Gehirn für das Erkennen komplexer Vorgänge öffnen? Wie bei allem, was man lernen kann: durch Übung. Im folgenden Kapitel über "Systemgerechtes Planen und Handeln" werde ich daher auf eine Reihe von kybernetischen Hilfen und Regeln näher eingehen, welche die durch das uns anerzogene lineare Denken entwickelte Scheu im Umgang mit komplexen Informationen ablegen helfen und Wege aufzeigen, um Einzelinformationen in ein Muster zu bringen, und die darin waltende Kybernetik aufzuspüren und verstehen zu lernen.
Zuvor möchte ich jedoch, um unsere drei Beispiele und das Manko im Erkennen ihrer Komplexität besser zu verstehen, noch einmal zu unserem Computerbild von Abraham LINCOLN auf Seite 54 zurückkommen. So wie es bei dieser Darstellung keinen Sinn macht, die einzelnen Quadrate, ihren Grauwert und ihre Reihenfolge genau zu untersuchen, so wenig macht es Sinn - um beim Beispiel Gentechnik zu bleiben -, die in den Chromosen aufgereihten Gen-Sequenzen immer genauer zu beschreiben zu wollen, zumal ohnehin bei jedem Teilungsschritt einer Zelle neue Variationen auftreten. Denn wie bei den Quadraten des LlNCOLN-Bildes ist es auch hier das Muster der Wechselwirkung eines Gens mit allen anderen Genen, worin das Geheimnis der speziellen Rolle dieses Gens zu suchen ist, und nicht in einem noch so genauen Studium seines Aufbaus oder seiner unmittelbaren Nachbarschaft.
Komplexe Vorgänge spielen sich nun mal in einer ganz anderen Betrachtungsebene ab, in einer anderen Dimension als aus dem Einzelfaktor eines Systems hervorgeht. Hinzu kommt, dass so, wie die "Sequenzkartierer" sie entschlüsseln, die DNS in ihrer aktiven Form ohnehin nie vorliegt. Wie Werner BARTENS es beschreibt, ist sie anders als im Labor - in ihrer realen Aktion "zu einem Gen-Salat aus Milliarden Basenpaaren verknäult, so dass Wechselwirkungen mit auf der Kette weit entfernten Abschnitten zustande kommen." Allein schon deshalb könne man aus der linear auseinander gezogenen Kette überhaupt keine Schlüsse darüber ziehen, welche Gene mit welchen kooperieren oder welche Gene sich beim Ablesevorgang auseinander falten und welche nicht. Genauso wenig wie man beim LNCOLN-Bild auch durch noch so genaue tabellarische Auflistung nach steigenden Grauwerten in aufwendigen Tabellen erfahren wird, dass das Muster einen menschlichen Kopf darstellt. Erst im Zusammenspiel bilden sich Kurven, kommen Proportionen heraus, so dass Augen, Mund und Nase erkennbar werden. Um diese "Message" zu erfassen, ist das Studium der einzelnen Quadrate die falsche wissenschaftliche Methode. Sie kann nur durch Zufall dem einen oder anderen "glimpse of truth" begegnen. Für das Umgehen mit der Komplexität der Lebensvorgänge ist daher gewiss die Darstellung der in dem Ausschnitt auf Seite 120 abgebildeten Regelkreise und ihre Steuerung durch das Wechselspiel der Enzyme ein weit besserer Zugang als das, was - so muss man leider sagen - derzeit mit ungeheurem Aufwand betrieben wird. Mit dieser Tatsache müssen auch die an der Genforschung beteiligten Forschungsteams zurecht kommen, wenn sie an der Aufklärung und Sequenzierung jener Milliarden von Textabschnitten des universellen Codes arbeiten.
Dieser Artikel wurde am Freitag, 08. April 2022 im Shop aufgenommen.